Wie ich Geschichte erlebte

Vor fast zwei Jahren stolperte ich im Freitag über einen Artikel von Ulrike Baureithel über ein Buch Götz Alys zum Thema Euthanasie. Sie spricht unter anderem an, das Opfer der Euthanasie in deutschen Familien bis heute ein blinder Fleck sind. Das erinnerte mich an meine eigene Familie. Von klein auf wussten meine Schwester und ich, dass meine Mutter neben ihrem jüngeren Bruder noch einen älteren gehabt hatte. Der sei, so die Familienüberlieferung, bei der Geburt gestorben, weil eine Zangengeburt notwendig gewesen sei, die missglückt sei. Erst über die Jahre munkelte meiner Mutter ab und an, ob da nicht die Nazis ihre Finger mit im Spiel gehabt haben könnten, ohne aber konkret zu werden. Als ich diese ihre Theorie erstmals hörte, dachte ich mir nicht viel dabei. Ich kannte zwar das Thema Euthanasie, konnte es aber nicht so detailliert zeitlich einordnen. Als ich dann genauer wusste, wann das entsprechende Programm im Dritten Reich begonnen hatte, war mir klar, dass mein Onkel nicht betroffen gewesen sein konnte, weil er viel zu früh geboren (und somit angeblich gestorben) war.

Nachdem meine Großeltern nun alle schon seit einigen Jahren tot sind und meine Mutter langsam ab und an ein wenig schusselig wird, begann sie vor wenigen Jahren, mir unvermittelt bei einer Feier von meinem älteren Onkel zu erzählen. Sie müsse, so sagte sie, immer wieder an ihn denken, wie er als Kind in seinem Stühlchen gesessen hätte, geistig behindert, um sich schlagend. Ich war baff. Sprechen konnte er nicht, stattdessen attackierte er sie, wenn ihm etwas nicht passte. Nun erfuhr ich auch, was es mit der Zangengeburt auf sich gehabt hatte: Der behandelnde Arzt war bei der Geburt betrunken, als es Komplikationen gab, griff er zur Zange. Mein Onkel erlitt ein Blutgerinnsel, die Folge waren Hirnschäden mit epileptischen Anfällen. Zumindest später war er auch blind. Zunächst kam er in ein Essener Heim und wurde von dort nach Mönchengladbach verlegt. Hier haben meine Großmutter und meine Mutter ihn gemeinsam mehrfach besucht. An einen Brummkreisel konnte meine Mutter sich erinnern, den sie ihm mitgebracht hatten. Im Verlauf des zweiten Weltkriegs zog meine Großmutter mit meiner Mutter und dem inzwischen zweiten Sohn in die Nähe von Ulm auf einen Bauernhof, wo sie den Rest des Kriegs verlebten. Im Süden erfuhr sie von einem Kinderarzt, mit dem sie sich offenbar über den ältesten Sohn im Heim unterhalten hatte, dass sie sich keine Hoffnungen zu machen brauchte, erzählte meine Mutter. Das Kind würde sicher bald sterben und meine Mutter behauptete zu wissen, dass der Arzt sogar die Todesursache, nämlich Lungenentzündung, korrekt vorhergesagt haben soll. Kurz darauf erhielt meine Großmutter schließlich einen Brief, in dem ihr genau das mitgeteilt wurde (mehr dazu bei Wikipedia). Eine Tante meiner Mutter fuhr zur Beerdigung nach Mönchengladbach und schilderte meiner Großmutter und meiner Mutter, dass der Sarg des Jungen so klein war, dass ihm die Beine gebrochen werden mussten, damit er überhaupt hineinpasste.

Ich fand es seltsam, dieses jahrzehntelange Schweigen in der Familie selbst zu erleben. Genauso seltsam fand ich, dass meine Mutter plötzlich das Bedürfnis verspürte, dieses Schweigen zu brechen, wozu meine Großeltern nie in der Lage waren.

Ein unerwarteter Hinweis

Das Thema beschäftigte mich nun nach dem Artikel im Freitag und ich verwies in meinem alten Blog auf den Artikel und meinen familiären Bezug zum Thema. Da schrieb mir eine Bekannte aus Mönchengladbach, sie wüsste, um welches Kinderheim es sich handelte: Waldniel-Hostert. Sie kennte es und schilderte mir ein paar Details. Damals beschloss ich, eines Tages mit meiner Mutter zu dem Heim zu fahren. Es dauerte ein paar Monate, bis sich eine passende Gelegenheit ergab.

Als wir in strömendem Regen ankamen, war ich etwas überrascht, weil sich an der Gedenkstätte ein Pulk von Leuten befand, außerdem gab es sowohl vor als auch auf dem Gelände Dutzende Autos. Wir fanden schließlich einen Parkplatz neben einem ebenfalls gerade angekommenen Pärchen. Ich nutzte die Chance, sprach sie an und fragte sie, was denn heute für eine Veranstaltung sei. Da erzählten sie mir, dass ein Herr Kinast, mit dem sie gut bekannt seien, derzeit gerade eine Gruppe lokaler Politiker mit dem Ort näher bekannt machte, dass später aber noch eine Schulklasse eine Führung bekommen sollte (ein Riesenglück, denn anderenfalls wären meine Mutter und ich gar nicht aufs Gelände gekommen). Zusammen gingen wir vier hinüber zu Herrn Kinast, dem die Erforschung der Geschichte der Gedenkstätte im Wesentlichen zu verdanken ist.

Wir stellten uns kurz vor, meine Mutter erzählte, was sie wusste, und der Fachmann war sehr daran interessiert. Allerdings wunderte er sich über den Namen meines ältesten Onkels. Er meinte, von den sicher 99 hier getöteten Kindern habe er sich mit 50 recht ausführlich beschäftigt, zu Hause habe er zudem den Belegungsplan des Friedhofs, aber der Name war ihm komplett unbekannt. Ich gab ihm meine Visitenkarte und wir nahmen an der Führung mit der Schulklasse teil. Dabei hatten wir doppeltes Glück: So kamen wir nicht nur aufs Gelände, sondern weil dort gerade Dreharbeiten zu dem Film „Die zwei Vampirschwestern“ stattfanden, konnten wir gemeinsam mit der Security in ein Gebäude hinein, was im Normalfall nicht möglich ist.

An diesem unangenehmen Ort werden jedes Jahr Tausende nachts bei der Geistersuche erwischt.
An diesem unangenehmen Ort werden jedes Jahr Tausende nachts bei der Geistersuche erwischt. Einen Kommentar dazu erspare ich mir.

Am Tag darauf suchte meine Mutter das Stammbuch ihrer Eltern heraus, in dem natürlich auch der Tod ihres älteren Bruders eingetragen ist. Zeitgleich rief Herr Kinast mich an und konnte mir mit nahezu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit mitteilen, dass mein Onkel nicht in Waldniel gestorben ist. Es gab allerdings, so meinte er, ein weiteres Heim in Mönchengladbach, das ebenfalls Teil des Programms gewesen sei, dessen Geschichte allerdings komplett unerforscht sei.

Nach dem Gespräch fand ich Gelegenheit, mir den Eintrag im Stammbuch selbst anzuschauen. Es stimmte, der Todesort war Mönchengladbach, das Todesjahr war 1941. Die genaue Adresse war in Sütterlin geschmiert und selbst für einen Archiverfahrenen wie mich nur mit etwas Mühe entzifferbar, insbesondere wenn man nicht mit Straßennamen Mönchengladbachs vertraut ist. Schließlich bekamen meine Mutter und ich den Namen dennoch heraus (Google half beim Verifizieren) und schließlich fand ich unter der angegebenen Adresse ein drittes Mönchengladbacher Heim, das sogar heute noch in Betrieb ist. Dieses Heim gehört zu einer Stiftung, die es es sich in der eigenen historischen Darstellung auf die Fahnen schreibt, dem Nationalsozialismus und insbesondere dem Euthanasieprogramm widerstanden zu haben.

Dieser vorgebliche Widerstand überrascht mich. Meine Familie hat im Gegensatz zu mir von Geschichte praktisch keinerlei Ahnung. Ihr Überblick beschränkt sich auf das selbst Erlebte. Woher kannte meine Mutter also diese vielen Details, die ins bekannten Euthanasieschema passen?
Das Heim, das Jahr, die Ankündigung der tatsächlich erfolgten Lungenentzündung …

Ich sprach erneut mit Herrn Kinast. Das Heim meines Onkels war ihm namentlich bekannt, er wusste aber auch, dass dessen Zeit im Weltkrieg wie beim zweitgenannten Heim komplett unerforscht sei. Ich stellte also ein paar Anfragen bei der Stiftung, die insgesamt recht oberflächlich und beinah ablehnend beantwortet wurde. Ja, man könne mir sagen, dass mein Onkel im Heim gewesen sei, sämtliche anderen Unterlagen wie Krankenakten seien aber im Krieg vernichtet worden. Das Grab gäbe es auch nicht mehr, aber bei dem heutigen Heim sei noch der Bereich zugängig, auf dem sich einst der Heimfriedhof befunden habe.

Über all das sprach ich noch einmal mit Herrn Kinast, der genau wie ich vermutete, dass die Mitarbeiter wohl eher blocken, wenn auch vielleicht nur zur Vermeidung eigener Arbeit. Leider fehlen mir Zeit und Ressourcen, mich näher zu vertiefen und womöglich doch noch im passenden Archiv vorstellig zu werden. Dafür fand ich mittlerweile die Zeit, mir das Buch » Das Kind ist nicht abrichtfähig von Andreas Kinast zu lesen. Bevor ich es demnächst in dieser Runde besprechen werde, wollte ich aber sozusagen das ausführliche Vorwort liefern.

Zumindest weiß ich heute, dass mein Onkel nicht in diesem schrecklichen Heim gestorben ist. Ob es ihm besser erging, kann ich nach derzeitigem Stand allerdings auch nicht sagen.

Gedenkstein am ehemaligen Friedhof der Kinderfachabteilung Waldniel-Hostert.
Gedenkstein am ehemaligen Friedhof der Kinderfachabteilung Waldniel-Hostert

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Kommentare

2 Antworten zu „Wie ich Geschichte erlebte“

  1. […] zu erzählen, und dass ich auch häppchenweise Dinge erfahre, die viele Jahrzehnte ein absolutes Tabu in der Familie […]

  2. […] ich neulich schilderte, ist nicht ausgeschlossen, dass meine Familie mehr oder weniger von Euthanasie betroffen […]

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