Als ich neulich den Friseur verließ, die Haare frisch geschneidert von meiner aktuellen Stammfriseurin, war ich nicht einfach nur gut gelaunt, nein, ich fühlte mich in etwa so, wie sich Hunde zu fühlen scheinen, wenn sie nach dem Regen oder einem Bad durch die Wohnung pesen. Damit meine ich keine begossenen Pudel, sondern den verrückten Hund, den wohl jeder Hundebesitzer kennen dürfte: ein ausgeflipptes Etwas, das wie irrsinnig in den vier Wänden herumspringt und dabei wirkt, als wäre es auf Ecstasy oder ähnlichen Drogen.
Zurück zum Friseur oder vielmehr zur Friseurin. Versunken im Bewusstwerden dieses Glücksgefühls, für das es keinen natürlichen Grund gab, fiel mir auf, dass ich schon immer, von klein auf, den Besuch zum Haareschneiden schätzte – wenn man von sehr wenigen Ausnahmen absieht, bei denen ich ziemlich unzufrieden war mit schief geschnittenen Frisuren, die eigentlich Symmetrie gefordert hätten. Aber diese Ausnahmen lassen sich erstens an einer Hand abzählen und hatten zweitens einen sofortigen Wechsel des Salons zur Folge. Meine Gedanken schweiften zurück, zu den frühesten persönlichen Erinnerungen, die ich an dieses Handwerk habe, sie führten mich zu einem klassischen Herrensalon.
Der Salon lag in dem unregelmäßigen Geviert zwischen Markt, Karstadt, Post und der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Genau genommen lag er der Post schräg gegenüber, die eine muffige Beamtenstube mit einbauschrankähnlichen Telefonzellen war und deren größter Spaß aus einer großen Waage zu Beginn des Treppenhauses bestand. Auf der Waage durften meine Schwester und ich uns samstags wiegen, vorausgesetzt, dass unsere Eltern ausreichend Groschen zur Hand hatten. Neben dem Friseur befand sich ein italienisches Restaurant, eins der ersten in meiner Stadt, in dem sogar ein Gitarrenspieler direkt an den Tischen sein Unwesen trieb. Was habe ich es als Kind gehasst, wenn der Arsch mit seiner Klampfe an unseren Tisch kam und laut trällernd das Schlumpflied anstimmte! Zu Hause war das Lied ja noch okay, aber in aller Öffentlichkeit? Bei so etwas Wichtigem wie einem Essen? Eine ausgemachte Frechheit!
In dieser Region kindlicher Freude (Einkaufen, Wiegen, Essen) befand sich also der Friseursalon, zu dem ich gemeinsam mit meinem Vater ging. Die Friseure in dem Geschäft trugen damals tatsächlich noch weiße Kittel und hinten in dem schlauchartigen Lokal befand sich die Maniküreabteilung für den Herrn. Dort umringten junge Damen mit Turmfrisuren und überzeichneter 70er-Jahre-Schminke die fast schon liegenden Herren der Schöpfung, dass es aus heutiger Sicht filmreif war. Die Damen knipsten, feilten, polierten den fertig frisierten Spießerpaschas die Nägel in einer seltsam unterwürfigen Haltung.
So sehr sich dieser ungewöhnliche Anblick in mein Hirn gebrannt hat, so toll fand ich es beim Friseur. Der Stuhl, der nach oben gepumpt und später wieder abgelassen wurde, das pseudo-poppige Ambiente, gekreuzt mit dem spießigen Flair der 60er; am meisten schätzte ich aber schon damals, das weiß ich hundertprozentig, das leicht kitzlige Kribbeln in den Haarwurzeln beim Haareschneiden und Kämmen.
Damals mochte ich sogar das zwanglose Geplapper noch ungemein. Ja, spätere Friseure würden sich wundern, was ich damals alles erzählt habe. Ich schnatterte ohne Unterbrechung jede Menge Unsinn aus meinem Leben und es muss erstaunlich klingen, wie viel Unsinn das schon damals war. Ich erinnre mich zum Beispiel, wie ich einmal kurz vor Weihnachtem mit dem Friseur meinen Wunschzettel besprach. Ich hatte mir ein Aquarium gewünscht mit einem Goldfisch. Der Fisch war ursprünglich kaum mehr als ein Alibi, weil ich in Wirklichkeit bloß so eine ständig aufpoppende und Luftblasen nach oben schleudernde Schatztruhe haben wollte mitsamt Plastiktiefseetaucher, wie ich sie in der Zoohandlung im Rhein-Ruhr-Zentrum stundenlang bewundern konnte. Für den Wunschzettel hatte ich das Aquarium samt Fisch gemalt, denn schreiben konnte ich damals noch nicht oder zumindest noch nicht richtig. Während ich nun mit dem Friseur diesen Wunsch besprach, steigerte ich mich dermaßen in die Idee, dass ich am Ende des Besuchs zu Weihnachten wenigstens so etwas wie einen Wal erwartete, wie ich sie aus dem Zoo Duisburg kannte. (Wenn ich die Feste nicht gerade durcheinanderwerfe, bekam ich stattdessen einen Big-Jim-Jeep, den ich jahrelang mit dem Geruch klebrigen Marmeladebrots und dem pupsenden Reinhard assoziierte, weil Reinhard beim Spielen einen fahren ließ, während er gleichzeitig den Jeep „aus Versehen“ über ein Marmeladenbrot steuerte.)
Später, nach dem Tod meines Vaters, folgte ich diesem Friseur in andere, stets kleiner werdende Ladenlokale, bei denen auch die Maniküreabteilung irgendwann wegfiel. Vermutlich wurde es eines Tages für den Mann von Welt hipp, die Nägel keiner Schere oder Feile zu überlassen, sondern sie bei der Gartenarbeit und dem Heimwerken von natürlichen Schleifmitteln wie Stein, Holz und Schrauben sich kürzen zu lassen.
Etwa in diese Zeit fiel auch die Entwicklung, dass ich beim Friseur verstummte. Dies ging einher mit der Notwendigkeit, eine Brille zu tragen, die Maulwürfe sehend gemacht hätte. Das Verstummen hatte zu Beginn praktische Gründe: Abgesehen vom Telefon hasse ich es, mich mit Leuten zu unterhalten, deren Augen ich nicht sehen kann. Ich brülle z.B. äußerst ungern Privates über die Straße und vermeide sogar weitgehend Gespräche von einem ins andere Zimmer. Da es aber leider galt, die Brille aus technischen Gründen beim Friseur abzusetzen, konnte ich fortan kaum mich selbst schemenhaft im Spiegel erkennen – vom Friseur zu schweigen!
Also begann ich, schon als Kind eine Art Meditation zu entwickeln, während der ich mich mit allen noch zur Verfügung stehenden Sinnen auf das Frisiertwerden konzentrierte. Ich schaltete die sichtbare Welt ab und lauschte, roch, fühlte, was um mich herum geschah. So genoss ich viel intensiver den Genuss des Haarkribbelns, der mir regelmäßig wie Schaudern durch das Genick fuhr.
Kurzzeitig wurde ich dann von meiner Oma frisiert. Ihr Traumberuf war einst Friseurin gewesen, stattdessen hatte sie eine kleine Karriere bei Henkel gemacht (weswegen ich noch heute das Hohelied auf Persil abzusingen weiß) und lebte ihre Haarschneideträume als Rentnerin aus. Da ihr so manche Grundfertigkeit an der Schere fehlte, lief es bei mir zumeist auf den klassischen Prinz-Eisenherz-Schnitt hinaus, allerdings erhielt ich als Opfer jedes Mal ein Modelgehalt von meiner Oma, das oft 10 Mark betrug. Beim richtigen Friseur, auch das wusste ich früh, bekam dagegen der Friseur das Geld und noch Trinkgeld dazu („außer beim Chef!“, wie ich irgendwann lernte).
Eines Tages folgte ich dann meiner älteren Schwester in die typischen 80er-Jahre-Modesalons. Diese wurden nicht mehr von Horsts oder Gerhards geführt, sondern von Künstlern namens Nabil. Daher bekam ich damals auf Geheiß meiner Schwester plötzlich Frisuren verpasst, die an meiner Schule erst Jahre später modern wurden (mithin ein Umstand, der das Schulleben nicht nur leicht macht). Immerhin wurde so das Bild stimmig mit den Buffalo-Boots und den Vanillahosen, die ich dank der Modeberatung durch meine Schwester stets als erster von über 1.200 Schülern auf meinem Gymnasium tragen musste.
Die Zeit verging. Mit Umzügen wechselten die Friseure und die Salons. Ich besuchte hippe Stadtsalons und uninspirierte Landfriseure. Schließlich landete ich aber vor ein paar Jahren wieder in meiner Heimatstadt und sogar bei dem Salon, in dem ich vor 25 Jahren bereits frisiert wurde (ein ehemaliger 80er-Jahre-Modesalon, der es allerdings geschafft hat, mit der Zeit zu gehen).
Fast die ganze Zeit hindurch überlebte mein eisiges Schweigen. Nur wenigen Friseurinnen bzw. Friseuren gelang es, mich regelmäßig zu einem längeren Gespräch zu bringen. Interessanterweise änderte sich das auch dann nicht, als ich von der Brille zu Kontaktlinsen wechselte. Im Gegenteil. Zu dem mir höchst angenehmen halbmeditativen Zustand der genießenden Ruhe gesellte sich nun eine neue Erfahrung: Endlich konnte ich live beobachten, was die Künstler der Klinge an meinem Kopf veranstalten! Für Normalsichtige mag das banal klingen, aber wenn man nach drei Dezennien erstmals sieht, wie die eigene Frisur entsteht – und mag sie noch so langweilig sein –, dann ist das überraschend spannend. Dementsprechend schaltete ich auch weiterhin auf den Meditationsmodus und blieb eher stumm. Ich rede bis heute nur das Nötigste („Temperatur ist gut so“, „Kaffee“ „danke“ oder „sehr gut“); hauptsächlich antworte ich auf Fragen und bleibe froh, nicht unnötig reden zu müssen.
Ich frage mich oft, wie Friseure das finden. Bisweilen habe ich den Eindruck, sie schätzten es, sich wenigstens bei einem Kunden mal nicht über das Schietwetter, den Urlaub in Tunesien, das chronische Magenleiden der Schwiegermutter oder aussterbende Königshäuser unterhalten zu müssen (richtig: Trotz Meditation bekomme ich leider das permanente Dummquatschen der anderen Kunden und das antwortende Kunstlachen der Friseurinnen mit). Bei anderen Friseuren wiederum scheint es mir, dass sie es unangenehm finden, jemanden zu frisieren, der stumm wie ein Fisch dasitzt. (Da haben wir ihn wieder: den Fisch beim Friseur; zum Glück habe ich keine Schuppen.)
Genau wie mein Schweigen ist übrigens auch das angenehme Gefühl geblieben, wenn meine Haare geschnitten und gekämmt werden; längst ergänzt durch das wohlige Schaben des Rasiermessers vor den Ohren und im Nacken. Denn auch wenn ich mich selbst schon seit acht Jahren mit dem Messer rasiere, bleibt es doch etwas anderes, wenn jemand anders die scharfe Klinge kunstvoll am Nacken führt.
All dies sind Gründe, warum ich trotz einer simplen Frisur gern etwas mehr bezahle und auch ein anständiges Trinkgeld springen lasse, das oft der Summe entspricht, die Freunde von mir für ihren kompletten Friseurbesuch auf den Tresen legen. Sie werden ihn nie verstehen, diesen Mehrwert, auf den es ankommt.
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