Meine Mutter (10)

Obwohl ich nur wenige Bilder im Kopf habe, wie meine Mutter Fernsehen guckt, muss sie das erstaunlicherweise oft getan haben. Gerade im Ferienhaus habe ich mit ihr etliche Klassiker im Fernsehen gesehen und hinterher mit ihr darüber gesprochen (zum Beispiel über Scarface mit Edward G. Robinson). Von Filmen, von guten Filmen war sie so fasziniert wie mein Vater und ich. Noch heute schwärmt sie von ihrer Lieblingseinstellung: Claudia Cardinale auf dem Bett in Spiel mir das Lied vom Tod, gefilmt von oben.

Als es in den 80ern modern wurde, Seifenopern zu gucken, schaute sie mit, aber nicht sehr konzentriert. Dallas, Denver Clan, Falcon Crest – schon bald warf sie zum Vergnügen meiner Schwester die Figuren und Handlungsstränge der verschiedenen Serien durcheinander und stellte Fragen wie „Ist das jetzt der verlorene Sohn von XY?“

An einem Abend – auf den ich absolut nicht stolz bin – saß ich mit meiner Mutter nach irgendeinem Film noch im Wohnzimmer unseres Ferienhauses. Da muss ich so 13 gewesen sein. Meine Schwester lag schon im Bett, schlief aber noch nicht. Meine Mutter rekapitulierte die letzte Folge irgendeiner Seifenoper und stellt desillusioniert fest, dass ihr Leben (bzw. das unserer Familie) ebenfalls seifenopertauglich wäre – wie natürlich jedes Leben, wenn man es verdichtet, das ist ja der Witz am Erfolg der Seifenopern.

Wir blödelten herum, welche Schauspieler die einzelnen Mitglieder unserer Familie spielen sollten und in einem grausamen Scherz meinte ich, dass Joan Collins nicht meine Mutter spielen könnte, weil die Darstellerin hässlicher sein müsste. Sie verstummte zunächst, wurde dann traurig. Ich wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte, einerseits weil es die entsprechende Herzlichkeit, jemanden in den Arm zu nehmen, in unserer Familie einfach nicht (mehr) gab, andererseits weil mich ihre Reaktion so überraschte. Ich verabschiedete mich, ging ins Bett im Kinderzimmer, in dem meine Schwester bereits lag. Sie hatte alles mitgehört und als das Schluchzen meiner Mutter aus dem ansonsten geräuschlosen Wohnzimmer zu uns drang, pfiff meine Schwester mich an, ich sollte mich entschuldigen. Wie ein räudiger Hund, der wusste, was er verbrochen hatte, schlich ich ins Wohnzimmer zurück und entschuldigte mich kleinlaut, aber ehrlich gemeint.


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