Mein Vater (11)

Auch sonst ging mein Vater lieber 5 m neben dem Weg als darauf, selbst wenn man da nur gehen konnte. Eine Zeit lang hatte er dabei einen Spazierstock und ich auch. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, als wir strikt auf dem Weg an der Straße für ein längeres Stück gegangen sind. Damals muss ich etwa 6 gewesen sein und es war sicher der bis dahin längste Spaziergang. Eigentlich hatte mein Vater, es war ein Sonntag, eine Zeitung holen wollen an dem Kiosk in der nächsten Kleinstadt nahe dem Ferienhaus, etwa 6 km entfernt. Bis dahin war der Weg schon weit gewesen, an den Straßen lang, am Domblick vorbei, an der Kreuzung rechts am Metzger vorbei, doch als wir Stunden später bei dem Kiosk ankamen, da war der Kiosk zu. Und anstatt von dort nach Hause zu gehen, kam mein Vater auf die Idee, weiter nach Bad Honnef zu laufen. Ich wusste nicht, wie weit das war, konnte es nicht einschätzen, sagte aber Ja. Und wir liefen und liefen und setzten uns irgendwo auf eine Bank. Und mein Vater zeigte und erklärte mir das Siebengebirge. Und ich dachte an die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen, aber das waren natürlich andere sieben Berge. Und ich hatte so einen fürchterlichen Durst und wollte was trinken, aber da war nichts, wo man was zu trinken bekommen konnte. Und ich plapperte und redete und dadurch wurde der Durst nur schlimmer, und ich malte uns Pläne aus, wie wir irgendwo klingelten an einem der Einfamilienhäuser und um ein Glas Wasser bäten und uns auf die Couch legten zum Ausruhen. Aber wir liefen einfach weiter, immer weiter, und ich war so platt und natürlich bekamen wir auch in Bad Honnef keine Zeitung und auch nicht das mir versprochene Eis, mit dem ich zu dem Spaziergang gelockt worden war, auch nicht in Bad Honnef, denn selbst da war alles zu. Also liefen wir zurück und landeten schließlich in dem Lokal mit Fremdenzimmern und Kegelbahn am Eingang des Dorfs mit dem Ferienhaus. Aber auch da ab es kein Eis, obwohl es da sonst manchmal welches gab. Ich bekam nur Schokolade, Milka oder Alpia, nicht Schogetten oder Ritter Sport wie von meiner Oma mütterlicherseits. Und zum Durstlöschen gab es Fanta für mich und ein Pils für meinen Vater. Und zu Hause angekommen legte ich mich erst mal hin und hatte müde Beine. Und wenn mein Vater mich danach noch mal fragte, ob ich mitkommen wollte, Zeitung holen, sagte ich Nein. Und einmal, da fuhren wir mit dem Auto zum Kiosk und ich drückte wie sonst den Knopf der Fahrertür runter, bevor ich ausstieg, damit mein Vater nicht abschließen musste, das war mir beigebracht worden, nur diesmal hatte mein Vater den Schlüssel nicht mitgenommen, sondern stecken lassen. Also brauchten wir ein Taxi nach Hause, um den Ersatzschlüssel zu holen. Da gingen wir nicht zu Fuß. Und mein Vater las neben der WAZ, der größten Zeitung des Ruhrgebiets, dem Rotz rechter Genossen, auch Zeitschriften, ich glaube, Stern oder Quick, während ich Micky Maus und Yps las, Micky Maus war doof außer Donald Duck und bei Yps waren zwar die Comics noch doofer, aber die Gimmicks toll, so wie mein erstes, ein Playbig-Pirat mit Diorama, obwohl ich das Wort nicht kannte. Und einmal war im Yps eine Gelddruckmaschine, die konnte ich selbst nicht zusammenbauen und mein Vater half mir dabei und staunte erst, wie das funktionieren möge, das man ein Stück Papier einlegt und ein Geldschein käme heraus, und lachte dann, als er las, wie der Trick funktionierte, weil es Walzen aus einem schwarzen undurchsichtigen Film waren, die man vor dem Trick mit einem echten Geldschein befüllen musste. Und damit beeindruckte ich meine Großeltern, die damals noch lebten. Und im Ferienhaus, in dem ich die Gelddruckerei eröffnete, schliefen meine Eltern in einem Zimmer und meine Großeltern im Zimmer links davon in komischen altertümlichen Holzbetten. Und zum Fußende der Großeltern standen die Betten für meine Schwester und mich. Und mein Opa schnarchte nachts, aber meine Schwester und ich durften nichts sagen, weil es die strengeren Großeltern waren. Und vorher, als ich noch kleiner war, schlief ich in einem kleinen Bett mit Laufstall im Zimmer meiner Eltern. Daran kann ich mich noch erinnern, auch wie ich da im Buch „Die Häschenschule“ blätterte, herummalte und Blätter rausriss, denn ich hasste das Buch, fand die Figuren schrecklich und Angst einflößend. Da habe ich lieber Hase und Igel gelesen oder den Struwwelpeter mit Hans Guck-in-die-Luft, den wir beim Schwimmen in der Grundschule nachspielten, obwohl es damals schon verboten gewesen sein muss, vom Beckenrand zu springen. Und damit ich Schwimmen lernte, meldeten meine Eltern mich im Schwimmverein an, bei Essen null sechs im Hauptbad, wo auch Dieter Krebs Schwimmer gewesen war. Aber mir gefiel das Schwimmen nicht, mir fehlt einfach die Kondition in den Armen. Der eigentliche Schwimmkurs war noch okay gewesen, aber als ich in die nächste Stufe sollte, verbaselten entweder meine Eltern oder ich oder alle drei, dass die nächste Stufe andere Zeiten hatte, und ich kam deshalb ein paar Mal zur falschen Zeit an und als ich endlich mal im richtigen Kurs war, verlor ich im tiefen Schwimmerbecken mit seinem 5-m-Turm meine Badekappe, als ich mich an den Bahnkennzeichnungen entlanghangelte, denn 50 m, die konnte ich einfach nicht am Stück schwimmen. Und einer von den Großen tauchte im tiefen Becken und holte meine Kappe vom Grund des Beckens hoch, der mir wie die Tiefsee vorkam. Und meine Eltern saßen oben und warteten auf mich und ich bestaunte die Unterwelt der Umkleidekabinen mit ihren komischen Gerüchen und dem ersten Taubstummen, den ich erlebte, und jemand fragte mich, ob ich am Sonntag segeln ginge, aber ich verstand nicht, was er meinte, und erzählte es meinem Vater und der lachte, weil ihm gleich klar war, dass es eine Anspielung auf meine Segelohren war, die ich wie die Zahnlücke von meiner Mutter geerbt hatte, nur dass man die Ohren bei ihr nicht sah wegen der langen Haare. Und wir machten auch anderen Sport, zum Beispiel den Trimm-dich-Pfad im Stadtwald oder gingen joggen im Westerwald, nur hieß das damals nicht joggen und ich lief immer mit meinem Vater vorneweg und weit hinter uns meine Mutter und meine Schwester. Und ich glaube, weiß es aber nicht mehr sicher, dass ich die Kinderversion des Laufanzugs meines Vaters hatte, auf jeden Fall hatte ich aber die Kinderversion der leichten Cordschuhe, die irgendwann in den 70ern modern waren und die mein Vater immer trug, wenn er mit dem Benzinrasenmäher im Garten des Ferienhauses den Rasen mähte. Und er mähte um die Bäume herum, die Apfelbäume und Zwetschgenbäume und Mirabellen, und ums Blumenbeet und die 45-Grad-Schräge zur Terrasse hoch und wieder runter, aber nicht hinter dem Haus, denn da war damals noch keine Wiese, sondern die Senkgrube und Schnittlauch und rote und schwarze Johannisbeeren, und ich mochte am liebsten die roten, und meine Mutter nahm die schwarzen, um Aufgesetzten zu machen mit Schnaps und Kandis, aber beide, um Marmelade zu machen. Aber die Marmelade aß mein Vater kaum. Vor allem nicht zu der Zeit, als er die komischen Diätbrötchen aß, die auch meine Oma mütterlicherseits eine Zeit lang gegessen hat. Die waren selbstgebacken und sahen ein bisschen wie Amerikaner aus. Und diese Diätbrötchen lagen meist hinten rechts in der Küche, da wo auch der Toaster stand, der Jahre später einen Kurzen hatte und Feuer fing. Und wo auch früher die Kaffeemaschine stand, bevor sie einen zentraleren Platz in der Küche bekam. Hier hatte ich Kaffeekochen gelernt und war angeblich gut gewesen, das sagten meine Eltern jedenfalls und sie mochten es auch, wenn ich sonntags Kaffee kochte. Und da stand auch der Kühlschrank, aus dem ich mich als Kleinkind bedient hatte, um auf dem Fußboden aus Eiern und anderen Zutaten irgendwas Obskures zusammenzumixen. Und die Kindergärtnerin, mit deren älterem Sohn ich später zusammen in einer Klasse war, obwohl ich ihm als Kind aus Versehen mal ein Veilchen gehauen hatte, weil wir Boxer spielten, die also sagte meiner Mutter, ich bräuchte Knete. Das denke ich heute auch oft, meine aber andere Knete. Meine Ambitionen, unsere Wohnung zu verschönern, beschränkten sich aber nicht auf Rührei auf den Fliesen. Ich hatte auch mal während des Tapezierens der Bar oben mit Filzern auf den frischen Tapeten herumgemalt. Oder einen Morgen – meine Eltern und meine Schwester schliefen noch – spielte ich Schreiner, so wie ich es vom Nachfolger meines Opas väterlicherseits kannte, schnappte mir Zollstock und Kuli und machte Notizen auf die weißen Bretter, die wir in Teilen der Wohnung anstelle von Tapeten als Wandschmuck hatten. Die Wand selbst war schwarz gestrichen und mit Lücken von vielleicht 2 cm waren weiße, ca. 20 cm breite Bretter horizontal an der Wand befestigt. Und als meine Schwester und ich unten einen eigenen Kindertrakt bekommen sollten und dazu die Einzimmerwohnung der Tochter der Wirtsleute in unserem Haus bekamen, da wurde der neue Kinderflur in eben diesem Stil fortgeführt. Dazu schraubte der Schreiner Onkel Heinz eine mobile Kreissäge an unserem fest installierten Küchentisch und sägte mit meiner Mutter die Bretter zurecht. Und aus dem Flur rief mein Vater die Maße an – 187,43 cm! – und Onkel Heinz verdrehte die Augen, murmelte „Architekt!“ und meine Mutter lachte. Das Brett wurde dann 1880 oder 1860 mm, wir brachten es meinem Vater zur Anbringung und der rief „Passt perfekt!“ zurück. Und Onkel Heinz knipste Äugsken, wie meine Oma immer sagte, die auch „getz“ statt „jetzt“ und „Gesses“ statt „Jesses“ und sogar „Goschi“ zu einem Freund meines Vaters sagte, obwohl der Joschi hieß. Und wenn Onkel Heinz nach Feierabend zu uns zum Sägen kam, weil er im selben Amt arbeitet wie mein Vater, dann wünschte er von uns Kindern einen Schnaps gebracht zu bekommen, denn der stand oben in der Bar, und meine Schwester und ich, wir machten uns einen Spaß daraus, Onkel Heinz manchmal nur ein Aquavitglas mit kaltem Wasser zu bringen, denn oben war auch ein kleines Waschbecken. Und Onkel Heinz spuckte das Wasser aus, weil er Klaren erwartet hatte, und tat empört, aber insgeheim hat er, glaub ich, schon darüber gelacht. Und anders als die meisten anderen Tanten und Onkel waren wir wirklich irgendwie mit ihm verwandt, denn er war in die Familie meiner Oma adoptiert worden.


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