Es gibt so vieles, das ich nicht von meinem Vater weiß, so vieles, das ich nie erfahren werde. Einzelne Details verrät mir meine Mutter häppchenweise, andere Informationen sind Standards, die sie fast wie ein Papagei wiederholt. So zum Beispiel, dass er nicht mit Geld umgehen konnte. Oder dass er keinen Geschmack hatte. Das sagt jedenfalls meine Mutter, um zu unterstreichen, dass beides bei ihr anders sei.
Lange Jahre hat mich sehr beschäftigt, wie wenig ich eigentlich über ihn weiß. Es machte mich unsicher, weil ich mich fragte, ob es etwas geben könnte, das ich nie über ihn erfahren konnte, aber womöglich von ihm geerbt habe. Schließlich habe ich Teile seines Humors geerbt und auch diese Tendenz zur Sicherheit, die noch dadurch unterstützt wird, dass ich jedes Mal verlässlich gescheitert bin, wenn ich doch einmal etwas gewagt habe. Beruflich. In der Liebe. Immer.
Inzwischen halte ich meine früheren Frage nach charakterlichen Geheimnissen meines Vaters, die ich geerbt haben könnte, für Blödsinn. Ich bin in vielerlei Hinsicht bescheuert und kann meiner Umgebung eine echte Plage sein. Höchstwahrscheinlich liegt darin die Wurzel für mein Scheitern. Aber daran trage nur ich Schuld, nicht mein Vater. Und wenn sie doch mit ihm verbunden wäre, dann höchstens, weil ich als Kind mit seinem Tod allein fertig werden musste, weil meine Mutter viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um sich auch um das Seelenheil der Kinder zu kümmern.
Während der Niederschrift dieses Projekts habe ich meinen Vater gerade um ein paar Monate überlebt. Ein seltsames Gefühl, vor dem ich viele Jahre große Angst hatte. In depressiveren Momenten war ich davon überzeugt, dass meine Psyche mich vorher auf die eine oder andere Weise ins Jenseits führen würde, ohne dass ich sagen könnte, warum.
Ich habe überlebt. Mit vielen Narben auf der Seele. Kaputt, zerfressen, unzufrieden und vom Leben davon überzeugt, dass Glück meine Sache nicht ist und nie sein wird. Es soll einfach nicht sein.
Es ist nicht leicht, sich damit abzufinden. Früher dachte ich, es fiele leichter, wenn man dieses Schicksal annimmt. Wenn man sich bloß dieser Unfreiheit bewusst wäre. Ich dachte, wenn man weiß, dass man sowieso verliert, hätte man wenigstens im Kleinen gewonnen, weil man sozusagen auf den richtigen Spielausgang wetten könnte.
Aber nichts ist so unbefriedigend wie das Wissen, dass man nicht gewinnen kann. Und doch – was können wir letztlich gewinnen außer einzelnen schönen Momenten? Sie sind die Sprossen der Leiter, auf denen wir aus dem Gefängnis des Alltags klettern können. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn diese Sprossen morsch werden, wenn sie uns keinen Halt mehr geben können und wir ungebremst in die schwarze Trübnis stürzen. Wer einmal dort unten liegen musste, mit zerschmetterten Knochen, der weiß, dass man das schlimmstenfalls seinem ärgsten Feind wünscht.
Die schönen Momente. Auch die schönsten Momente vergehen, sobald wir für immer die Augen schließen. Und manche schon vorher.
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