Die Treppe

Sie hatte das Geräusch gehört in der Nacht. Im Traum meinte sie, ein Klopfen gehört zu haben, später ein Kratzen. Nicht wie bei einem Tier, dumpfer, kläglicher. Aber auch immer schwächer und immer schwächer werdender. Obwohl Vollmond war, konnte sie nur wenig Schemen im Zimmer erkennen. Die Himmel war wolkig gewesen. Genau wie der Wetterbericht angekündigt hatte. Jetzt mit offenen Augen lauschte sie wieder. Hatte sie es wieder gehört? Oder doch nur geträumt? Sie war sich nicht sicher. Wenn es überhaupt im Haus und nicht vielleicht im Garten oder bei den Nachbarn war, dann war es weit weg. Sie schlummerte wieder ein.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, dachte sie erst überhaupt nicht daran. Sie streckte sich, nahm ihr Smartphone in die Hand und schaltete den Flugmodus wieder ab. Ein kurzer Check der Nachrichten, war bei ihrer Familie alles okay? Gleichzeitig beobachtete sie den Himmel. Die Wolken waren weg, der blaue Himmel versprach einen kalten, aber trockenen Tag. Sie streckte sich noch mal, bevor sie aus dem Bett aufstand. 

Seit sie in dieses Haus gezogen war, hatte sie sich in manchen Zimmern immer beobachtet gefühlt. Das Gefühl hatte sie nicht in den Zimmern, die zur Straße – also zu den Nachbarn – hin lagen, sondern auf der anderen Seite. In der Dachkammer, in der die Kinder der Vermieter vom Garten aus vor vielen Jahren eine alte Frau gesehen haben wollen. In dem darunter liegenden Zimmer, in dem ihre kleine Nichte, wenn sie zu Besuch war, einfach nicht schlafen wollte. Das Kind blieb wach und schrie nach der Mutter.

Manchmal glaubte sie aus dem Holz des Parketts den beißenden Schmier von Zigarillos zu riechen. Dann lag ihr ein Geschmack wie Metall auf der Zunge. Einmal dachte sie, im Glas ihrer Vitrine aus dem Augenwinkel eine Fratze gesehen zu haben. Als sie hinblickte, war nichts mehr zu sehen und sie schüttelte selbst den Kopf über ihre Täuschung. Eben genauso wie über den Luftzug, der ihr manchmal über den Nacken strich. 

Im Keller fühlte sie sich manchmal fast verfolgt. Dabei war es eher Souterrain als richtiger Keller und entsprechend hell. Aber wenn sie die Treppe hinaufging, ungesehen von den Nachbarn, spürte sie fast immer etwas hinter sich.

Der Keller. Jetzt musste sie daran denken, wie sie letzte Nacht wach geworden war. Hatte sie geträumt? Sie stand auf, streckte sich noch mal. Dann blickte sie raus. Wolken. Es würde heute nicht mehr hell werden. Sie ging ins Bad. Der Boden knarzte, vor allem an den Stufen. Nachdem sie sich frisch gemacht und sich angezogen hatte, ging sie runter. Für einen Kaffee, wie sie sich einredete. Dabei war ihr die eigene Neugierde bewusst. Vor der Küche kam sie an der Kellertür vorbei. Wenn ihr Freund nicht zu Hause war, schloss sie den Keller nachts ab. Wegen der Einbrecher. Natürlich wäre die Tür kein Hindernis, aber um sie aufzubrechen, müsste ein Einbrecher so viel Lärm machen, dass sie davon wach zu werden hoffte.

Sie blickte auf den Schlüssel. Er steckte genauso in der Tür wie am Vorabend. Etwas roch. Sie zögerte. Dann griff sie zum Schlüssel und drehte ihn langsam. Erst hörte sie nur den Riegel schnappen. Etwas rutschte und fiel dumpf zu Boden. Sie erschrak. Sprang schnell zurück und kreischte kurz. Etwas drückte die Tür matt auf und fiel halb in den Flur. Felle, Leder, Gestank von Faulfleisch. Es war die Fratze. Die Augen schielten nach oben. Die Wangen eingefallen. Das Gesicht hatte praktisch keine Oberlippe und bleckte die Zähne. Er war tot, das war offensichtlich. Die Finger blutig. Die Kellertür zerkratzt.

Was immer das war, wer immer das war – er hatte die ganze Nacht versucht, sich durch die Tür zu kratzen. Neben ihm lag ein kleines Buch, ein Schreibheftchen. Sie saß gebannt da, traute sich lange nicht aufzustehen. Sie schluchzte etwas, warum, wusste sie nicht mal. Denn das, was da lag, machte ihr keine Angst mehr. Sie fragte sich, wer er war und wie er in ihren Keller gekommen war. Er sah aus wie ein Teilnehmer einer Arktisexpedition aus dem vorletzten Jahrhundert. Er trug einen Anorak aus Fell. Die dicke Kapuze immer noch über den Kopf gezogen. Haare fieselten unter der Kapuze hervor und glänzten wie Speck. Was unter dem dünnen Bart an Gesicht zu sehen war, war grau.

Langsam kroch sie mit den Beinen voran, den Oberkörper zur Seite gedreht. Sie fingerte vorsichtig nach seinem Büchlein und schob sich zurück zur Wand. Der Titel war schnörkelig beschrieben, aber sie konnte etwas entziffern: HMS Terror.


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