Wolfgang Herrndorf, Sand

Mein zweiter Herrndorf nach Tschick und eine noch ungewöhnlichere Geschichte. In einem seltsamen Storymix aus Camus-Landschaften, Agententhriller und Beatnikleben steckt Herrndorf hier allerlei Figuren in eine, nein, in eine Reihe von Geschichten, die eigentlich nur wenig miteinander gemein haben, aber dennoch immer wieder zusammenfinden. Manchmal tun sie das sogar, ohne dass man es als Leser sofort merkt. Erzählerisch arbeitet Herrndorf eigentlich wie ein klassischer Magier: Er streut dem Leser mit der einen Hand Sand in die Augen, um mit der anderen Hand einen Zaubertrick zu vollführen – und nicht immer begreift man den Trick sofort.

Stilistisch weiß er auch mit interessanten Eigenheiten aufzuwarten. So schätze ich im hiesigen Buch eine Technik, mit der Herrndorf die indirekte Wiedergabe von Dialogen extrem lebendig gestaltet. Er zerhackt manche Dialoge einfach in kurze Sätze und lässt einzelne Wörter aus, ohne dass der Sinn verlustig geht. So entsteht nicht nur eine enorme Verdichtung, sondern man kommt sich stellenweise auch vor, als berichtete ein Nachbar so ganz beiläufig über gemeinsame Bekannte.

Am besten bringe ich mal ein Beispiel (wobei es ausgerechnet da weniger um einen Dialog, als vielmehr um den Monolog eines Nachrichtensprechers geht; aber so verrate ich wenigstens nichts Entscheidendes):

Der Sprecher stockte kurz, und schon zeigte ein Einspieler einen Mann mit einem weißen Sonnenhütchen auf dem Kopf und Schuhcreme im Gesicht, der sich mit einer Gruppe von Anzugsträgern unterhielt. Andere Männer in flotten Trainingsanzügen turnten mit Maschinengewehren über die Flachdächer des olympischen Dorfes. Der Freiheitskampf des palästinensischen Volkes würde. Der Münchner Polizeipräsident habe. Alle Geiseln seien. Anschließend minutenlanges Interview mit einem hohen geistlichen Würdenträger, der scharfsinnig die Lage analysierte.

Wie gesagt, das ist nur ein flaues Beispiel, in dem aber die Technik deutlich wird.

Summa summarum: ein gutes Buch, ein spannendes Buch, oft genug auch ein witziges Buch. Bei der Lektüre sollte man aber aufpassen, mit den Gedanken nah am Text zu sein, damit man nicht irgendeinen magischen Trick verpasst, weil man sich den Sand nicht rechtzeitig aus den Augen gerieben hat. Ja, ich glaube sogar, dass bei diesem Buch eine Zweitlektüre sehr hilfreich sein kann, weil ich mir sehr sicher bin, dass vorn Spuren gelegt werden, die man erst erkennt, wenn man die ganze Geschichte kennt.


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